Arbeiterkampf in Alabama: Eine Gewerkschaft nimmt europäische Autohersteller ins Visier (2024)

Die United Auto Workers zwangen GM, Ford und Stellantis mit Streiks zu Konzessionen und mobilisieren nun bei VW, Mercedes und Hyundai im Süden der USA – nicht zuletzt dank Joe Biden.

Isabelle Jacobi

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Arbeiterkampf in Alabama: Eine Gewerkschaft nimmt europäische Autohersteller ins Visier (1)

Zurückhaltung ist nicht die Art des Bosses der mächtigsten Autogewerkschaft der USA, der United Auto Workers: «Die VW-Arbeiter sind der erste Dominostein, der gefallen ist», triumphierte Shawn Fain im Interview mit dem «Guardian». Es war Mitte April, und die Arbeiter der Volkswagen-Fabrik in Chattanooga, Tennessee, hatten gerade in einer Abstimmung beschlossen, sich gewerkschaftlich zu organisieren.

Die amerikanischen Medien sprachen von einem historischen Ereignis. Eine satte Mehrheit von 73 Prozent der 4300-köpfigen Belegschaft hatte für den Anschluss an die United Auto Workers gestimmt. Es ist die erste gewerkschaftliche Organisation bei einer nichtamerikanischen Autofabrik in den Südstaaten der USA.

In den neunziger Jahren wurden Teilstaaten wie Tennessee, South Carolina oder Alabama zu favorisierten Standorten europäischer und asiatischer Autoproduzenten. BMW, Mercedes, Honda und Nissan eröffneten Fabriken, um den amerikanischen Markt zu erobern. Die Branche beschäftigt im Süden inzwischen fast gleich viele Arbeitnehmer wie im mittleren Westen der USA.

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Andere folgten, auch die amerikanische Autoindustrie expandierte die Produktion teilweise in den Süden, hielt aber am Zentrum rund um die Stadt Detroit in Michigan fest.

Die ausländischen Produzenten investierten konsequent im Süden, wo der Einfluss der nördlichen Gewerkschaften nicht hinreichte. Während die Mutterkonzerne von BMW und Co. sich zu Hause mit den Gewerkschaften gütlich arrangierten, blieben die Standorte in den USA unorganisiert.

Tiefere Löhne, brummende Wirtschaft im «Sunbelt»

Die ausländischen Autohersteller brachten den Südstaaten nach der Jahrhundertwende einen kräftigen Aufschwung, während die Industrie im mittleren Westen in eine tiefe strukturelle Krise stürzte und der Region den unrühmlichen Namen Rostgürtel eintrug. Derweil begann die Industrie im Sonnengürtel zu boomen, wie ein Blick in die offizielle Statistik zeigt. Der südliche Landstreifen von Nevada über Texas bis South Carolina weist seit Jahrzehnten ein höheres Wirtschaftswachstum auf als der gewerkschaftlich stärker organisierte Industriesektor im mittleren Westen.

Die Löhne für Autoarbeiter im Süden sind laut dem Ökonomen Yen Chen von der Denkfabrik Center for Automotive Research zwischen 11 und 40 Prozent tiefer als im gewerkschaftlich organisierten Norden. Einen monokausalen Zusammenhang zwischen gewerkschaftlicher Organisierung und der Krise der heimischen Autoindustrie sieht der branchennahe Experte aber nicht.

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Industrieller Standortwettbewerb gehört zum erfolgreichen Geschäftsmodell der Südstaaten – in entsprechenden Ratings nehmen sie regelmässig Top-Plätze ein. Der Unternehmerverband Business Council of Alabama spricht von einem «dreibeinigen Stuhl», um die Dreifaltigkeit des Standortwettbewerbs zu beschreiben: Fachkräfte, die an subventionierten Colleges marktnah ausgebildet werden, sowie tiefe Lohnkosten und Unternehmenssteuern.

Hinzu kommen stattliche Steueranreize, die Unternehmen nach Alabama locken und dort behalten. Die Regierung von Alabama gewährte Mercedes 1993 einen Steueranreiz im Wert von 253 Millionen Dollar – 169000 Dollar für jeden Arbeitsplatz, den Mercedes zu schaffen versprach.

Zum Werkzeugkasten der Standortförderung gehören antigewerkschaftliche Gesetze, die die Beitragspflicht für Arbeitnehmer eines organisierten Standorts verbieten. Alle Teilstaaten im Sonnengürtel ausser New Mexico kennen solche «Right to work»-Gesetze.

Gewerkschaften im Aufwind

Genau dieser Standortförderung sagt die Autogewerkschaft aus Detroit nun den Kampf an. Ausgerüstet mit einem Budget von 40 Millionen Dollar will der UAW-Präsident in den kommenden Monaten die Arbeitnehmer von 13 nichtgewerkschaftlichen Autoproduzenten mobilisieren. Der Schritt erfolgt nach einem Coup in den Stammlanden der heimischen Autoindustrie, der im vergangenen Jahr selbst Insider in Gewerkschaftskreisen erstaunte.

Mit einem 46 Tage lang dauernden Streik letzten Herbst zwangen die United Auto Workers die drei grossen Autohersteller GM, Ford und Stellantis zu Konzessionen. Das hatte kaum jemand der Gewerkschaft zugetraut, denn die UAW und die amerikanischen Gewerkschaften allgemein schwächeln seit Jahrzehnten. 2023, im Streikjahr der UAW, erreichten die Mitgliederzahlen sogar einen Tiefstand; nur noch 10 Prozent der Arbeitnehmer sind in den USA gewerkschaftlich organisiert.

Doch dann kam die Covid-Pandemie und nach deren Abflauen der angespannteste Arbeitsmarkt seit vielen Jahrzehnten. Die Nachfrage nach Fachkräften wurde für Unternehmen akut und verlieh Jobsuchenden eine neue Verhandlungsmacht. «Der starke Arbeitsmarkt hat den Arbeitnehmenden das Selbstbewusstsein gegeben, für bessere Bedingungen zu kämpfen», sagt Arthur Wheaton, Professor für Labor Studies an der Cornell University. Die Popularität von Gewerkschaften befinde sich auf einem seit den sechziger Jahren nicht gesehenen Rekordhoch. Laut Gallup befürworten 67 Prozent der Befragten die Gewerkschaften.

Neuer Gewerkschaftsboss bläst zum Angriff

Bei der Gewerkschaft United Auto Workers trat ein neuer Mann zu einer für die Mobilisierung vorteilhaften Zeit aufs Parkett: Shawn Fain wurde im Frühling 2022 an die Spitze der Autogewerkschaft mit 400000 Mitgliedern gewählt. Die Wahl des Aussenseiters erfolgte nach einem Korruptionsskandal, der das Renommee der Gewerkschaft schwer beschädigt hatte.

Kaum im Amt, ging der 56-Jährige in Kampfstellung und zwang mit dem Streik von 2023 die «Big Three» an den Verhandlungstisch. Mit Erfolg: Die UAW handelte Lohnerhöhungen, Inflationsausgleich und bessere Bedingungen für temporär Angestellte aus und machte Eingeständnisse rückgängig, die sie während der Finanzkrise 2008 und 2009 gemacht hatte. Das Hauptargument der Gewerkschaft lautete, die Arbeiter hätten ein Anrecht darauf, an den Profiten der wiedererstarkten Branche teilzuhaben.

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Unmittelbar nach der Einigung mit den «Big Three» in Detroit folgte der Startpfiff für die Mobilisierung bei den ausländischen Autoproduzenten in den Südstaaten. Der Gewerkschaftsboss nahm zuerst VW in Chattanooga ins Visier. Es war der dritte Anlauf, die dortige Arbeiterschaft zu überzeugen, sich den United Auto Workers anzuschliessen.

Eine Gewerkschaft zu bilden, ist in den USA hürdenreicher als in Europa, wo die Koalitionsfreiheit in manchen Ländern in der Verfassung festgeschrieben ist. In den USA anerkennt das Arbeitsgesetz zwar das Recht der Arbeitnehmer, sich zu organisieren. Der Anschluss an eine Gewerkschaft erfolgt aber auf Betriebsebene und per Mehrheitsbeschluss der Arbeiter am jeweiligen Standort; die dazu notwendigen Abstimmungen richtet die unabhängige Regierungsagentur National Labor Relation Board in Washington aus. Unternehmen müssten sich vor, während und nach Abstimmungen eigentlich neutral verhalten, aber investieren oft hohe Summen in antigewerkschaftliche Marketingkampagnen. Die Folgen für Behinderungsaktionen sind relativ gering – etwas, was die Demokraten im Kongress gerne ändern würden.

Drei Wochen nach dem Sieg der Gewerkschaft bei Volkswagen zeigte sich, dass die Gewerkschaften nicht einfach in den Südstaaten durchmarschieren werden. In Vance, Alabama, lehnten es die Arbeiter einer Mercedes-Fabrik mit einer Mehrheit von 56 Prozent ab, sich der UAW anzuschliessen.

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Arthur Wheaton von der Cornell University sieht den Grund für die unterschiedlichen Resultate bei VW und Mercedes-Benz in begünstigenden Umständen in Tennessee. Das Management von VW sei neutral geblieben, und die deutsche Gewerkschaft IG Metall habe sich mit der VW-Belegschaft in Tennessee solidarisiert. Mercedes-Benz hingegen habe sich mit der Gouverneurin von Alabama und antigewerkschaftlichen Gruppen zusammengeschlossen, um den Vorstoss zu blockieren.

Die Gegenkampagne der Gouverneure

Schon im Vorfeld der VW-Abstimmung in Tennessee hatten sechs Gouverneure von Autos produzierenden Teilstaaten in einem gemeinsamen Communiqué vor «Spezialinteressen» gewarnt, die Arbeitsplätze sowie das «Wertesystem» in den Südstaaten bedrohen würden. Als sich der Vorstoss der Gewerkschaft nach dem VW-Erfolg zu Mercedes-Benz in Alabama verlagerte, lancierten Wirtschaftsvertreter die Gegenkampagne «Alabama Strong». Es begann ein Kampf um die Stimmen der 4300 Mercedes-Arbeiter. Während die Autogewerkschaft höhere Löhne und bessere Arbeitsbedingungen versprach, warnte der Business Council von Alabama vor einem schmerzhaften Stellenabbau.

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Auch die Politik half mit: Die Gouverneurin Kay Ivey stellte sich schützend vor die Autoindustrie in Alabama, wo neben Mercedes-Benz auch Honda, Hyundai, Toyota und Mazda produzieren. Sie unterschrieb zudem eilig ein Gesetz, das Unternehmen Steuervergünstigungen vorenthält, sollten diese mit Gewerkschaften freiwillig kooperieren. Auch Tennessee und Georgia kennen solche antigewerkschaftlichen Gesetze, die sich gegen Unternehmen richten.

In Alabama scheiterte der gewerkschaftliche Vorstoss schliesslich, doch die United Auto Workers lassen nicht locker. Sie verlangen beim zuständigen National Labor Relations Board eine Neuauflage der Abstimmung bei Mercedes-Benz in Vance. Zudem verkündete die Gewerkschaft, sie habe bei den deutschen Behörden eine Lieferkettengesetzbeschwerde eingegeben, die zu einer hohen Busse führen könne. Sie klagt Mercedes-Benz an, antigewerkschaftliche Massnahmen getroffen und damit das im deutschen Grundgesetz verankerte Koalitionsrecht verletzt zu haben. Mercedes-Benz, Deutschland, äussert sich nicht dazu.

Union Joe: der Präsident als Gewerkschafter

Allerdings erhält die Autogewerkschaft auch politische Rückendeckung, und zwar von höchster Stelle – aus dem Oval Office. Joe Biden machte den Streik gegen die Autounternehmen GM, Ford und Stellantis zur Chefsache und besuchte am 26.September 2023 als erster Präsident in der Geschichte der USA einen Streikposten. In einer klassenkämpferischen Brandrede sprach er vom neuen «inneren Feind», der «Gier der Unternehmen». Und mit Verweis auf den Bail-out während der Finanzkrise sagte er: Wir haben sie gerettet, jetzt sollen sie etwas für uns tun, so stilisierte sich der Präsident der USA als Gewerkschafter-in-Chief.

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Bidens Nähe zu den Gewerkschaften ist nicht neu und im Präsidentschaftsamt gewachsen. Seine Regierung hat diverse Regulierungen beschlossen, die Gewerkschaften fördern und Arbeitnehmern zugutekommen, vom Dekret für staatlich geförderte Bauprojekte, Gewerkschaftsmitglieder zu beschäftigen, bis zur Ausdehnung der obligatorischen Überzeitkompensationen, von welcher rund vier Millionen Arbeitnehmer profitieren. Für Gewerkschaften besonders relevant ist, dass Biden das fünfköpfige National Labor Relation Board neu besetzt hat, wie der Chef der United Auto Workers in einem Interview mit dem Magazin «The Nation» betonte. Die Regierungsagentur ermittelt unter anderem gegen Starbucks wegen mutmasslicher Einschüchterungsmassnahmen gegenüber Arbeitern, die sich einer Gewerkschaft anschliessen wollen.

Joe Biden hat jeglicher Art von «Union-Busting» den Kampf angesagt, nachdem das National Labor Relations Board unter seinem Vorgänger einen pointiert wirtschaftsliberalen Kurs verfolgt hatte. Dabei haben die Demokraten erst durch Donald Trump ihre Affinität zur Arbeiterschaft wiederentdeckt. Sowohl Bill Clinton wie Barack Obama hatten entschieden den Freihandel gefördert. Erst als Donald Trump aufs politische Parkett trat und die desillusionierte Arbeiterschaft im Rostgürtel als Wählerschaft entdeckte, vollzogen die Demokraten eine wirtschaftspolitische Kurskorrektur und wandten sich den Gewerkschaften zu. Trump hingegen sieht Gewerkschaften, neben Ungleichgewichten im Freihandel, als einen Grund des Malaise der heimischen Industrie.

Unter Präsident Biden ist die längst totgesagte Arbeiterbewegung in den USA wieder aufgelebt. Falls er im November nicht wiedergewählt würde, wäre die Euphorie der Gewerkschaften wohl schnell vorüber.

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